Freundschaftliche Begegnungen zwischen dem 5. Lyzeum Klaudyna Potocka in Posen/Poznań und der Bismarckschule in Hannover 1983-2023
Herausforderungen am Anfang
„Um 9:15 erreichten wir Hannover, müde und geschafft, aber mit der Gewissheit, eine wohl einmalige Erfahrung gemacht zu haben. Die Chance, so intensiv mit polnischen Menschen in Kontakt zu kommen und so die Lebensweise, Kultur und Probleme der Menschen kennenzulernen, ist sicher nur innerhalb eines Schüleraustauschs gegeben.“ Das schrieb der Schüler B. Kiersch nach der Austauschwoche im September 1989, der ersten, in der unsere Schülerinnen und Schüler in Familien untergebracht waren. Vorher mussten Studentenwohnheime oder Jugendherbergen reichen, was politische – zu viel Nähe war von Seiten der polnischen Administration nicht erwünscht – und ökonomische Gründe hatte. Die finanziellen und räumlichen Kapazitäten polnischer Familien in den 80er Jahren waren ganz andere als im heutigen prosperierenden Posen. Die anstrengenden Nachtfahrten habe ich übrigens selbst noch Mitte der 90er erlebt.
Glück gehabt
Warum das 5. Lyzeum? Eher zufällig. „Es begann vor mehr als 20 Jahren. Bei einer Studienreise nach Polen mit Schülern unserer Schule während der Osterferien 1979 äußerte ich den Wunsch, eine Schule besuchen zu dürfen. Das staatliche Reisebüro JUVENTUR, über das damals alles lief, vermittelte uns das V. Lyzeum namens Maria Kosciuszka.“ So Lothar Nettelmannn, Initiator der Schulpartnerschaft, rückblickend im Jahr 2001. Ein Glücksgriff vor allem wegen des jungen Schulleiters Roman Henicz, das Gegenteil von einem Apparatschik und ein Meister der Diplomatie mit leisen Tönen. 1990 bekam die Schule den alten Namen Klaudyna Potocka, eine polnische Wohltäterin im 19. Jahrhundert, zurück. Übrigens ist mir eine solche Frau als Patronin lieber als Otto v. Bismarck, der aus gutem Grund wegen seiner damaligen Germanisierungspolitik einen schlechten Ruf in Polen hat.
Widerstände werden überwunden
Von dieser ersten Begegnung mit dem 5. Lyzeum 1979 bis zur ersten Austauschfahrt nach Posen dauerte es noch vier Jahre. Widerstände von Seiten der politischen Bürokratie in Warschau (und Ostberlin!) und das Kriegsrecht in Polen 1981/82 waren die Ursachen. Ohne die Unterstützung durch den Oberbürgermeister H. Schmalstieg, Politiker in Bonn und bedeutende Personen aus der polnischen Bildungselite wäre das Projekt wohl gescheitert. Die Schwierigkeiten und notwendigen Anstrengungen nahmen aber auch danach noch kein Ende. Der Gegenbesuch einer polnischen Schülergruppe klappte erst 1986. Dann aber ohne Unterbrechung (von Schwierigkeiten Anfang der 90er Jahre und jüngst der Unterbrechung durch Corona abgesehen) bis heute.
Lernen an Orten der Geschichte
Die frühen Jahre waren, was die Motivation und Zielsetzung betrifft, noch stark geprägt von der Erinnerung an die spannungsreiche deutsch-polnische Geschichte, vor allem die Okkupationszeit im Zweiten Weltkrieg, und vom Versöhnungsgedanken. Die Großeltern und auch noch viele Eltern der gastgebenden polnischen Schülerinnen und Schüler hatten diese Zeit selbst erlebt (z.B. als Zwangsarbeiter im „Reich“ oder im „Warthegau“ oder als aus der Posener Wohnung Zwangsvertriebene). Aber auch heute spielt das Thema zu Recht noch eine Rolle. „Am Dienstagnachmittag brachte uns die Straßenbahn an den Stadtrand zur Gedenkstätte ‚Märtyrermuseum FORT VII‘. In der alten Festungsanlage bauten die deutschen Mörder schon im Oktober 1939 ein Konzentrationslager und die erste Gaskammer des ‚Dritten Reiches‘. Der Leiter der Gedenkstätte führte uns engagiert und in gutem Englisch durch diesen Ort des Todes und erinnerte am Ende an neue Orte der Vernichtung. Erinnern, sich vor den Opfern verneigen, heute Wachsamkeit üben – drei gute Gründe für den Besuch.“ (L. Jacob u. U. Wehking 2017)
Diskussionen, Gastfreundschaften
Was haben die Teilnehmenden während der Besuchswochen erlebt und welche Eindrücke sind geblieben? Einige Beispiele: „Die Bismarckschule funktioniert ganz anders als das 5. Lyzeum bei mir zu Hause. Die Schüler haben wenig geschrieben. Sie haben viel diskutiert. Das gefällt mir.“ (M. Burkowsky 1998) „Ich habe die Woche bei einer polnischen Familie verbracht, die schon viele Jahre in Deutschland lebt. Wir haben viele interessante Sehenswürdigkeiten besucht. Wir sind auch in Hamburg gewesen. Das alles hat uns wirklich sehr gut gefallen, aber am stärksten bleibt mir die Gastfreundlichkeit der Familien in Erinnerung. Sie haben gut für uns gesorgt und uns das Leben der deutschen Jugend von einer neuen Seite gezeigt. … Einmal sind wir auch in die Disco gegangen.“ (M. Kwaśniewska 1998) Ähnlich wie der BS-Schüler am Anfang des Artikels äußerte sich M. Henicz 1998: „Wir haben uns sehr gefreut, dass wir in der Woche für alles Zeit gefunden haben, z.B. um über Themen zu diskutieren, die wohl allen jungen Menschen, egal aus welchem Land sie kommen, wichtig sind. Durch diese Gespräche konnten wir uns besser kennen und verstehen lernen und dabei viele Sachen klären, die uns auf den ersten Blick unterscheiden.“ Was der Sohn des damaligen Schulleiters sagte, gilt bis heute. Abbau von Vorurteilen und Entlarvung von Stereotypen. Der „heimliche“ Lehrplan jedes Austauschs.
Ich ergänze aus meinen eigenen Aufzeichnungen: „Das Beisammensein mit meinen Gastgebern zu Hause oder auch beim Tee im ‚Chimera‘ oder bei einer Soljanka und einer Pizza im ‚Tivoli‘ habe ich genossen und mich dabei immer gut und intensiv unterhalten können – sowohl ernsthaft als auch mit viel Humor und Heiterkeit. Diese Heiterkeit auf polnischer Seite trotz vieler Alltagsprobleme habe ich immer bewundert.“ Die Alltagssorgen sind in ökonomischer Hinsicht sicher weniger geworden, die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte dagegen nicht. Letzteres offensichtlich ein grenzüberschreitendes Phänomen.
Exkursionen, Highlights
Ein ganz besonderes Ereignis gab es 1995: „Am Abend genießen wir einen weiteren kulturellen Höhepunkt. Im ‚Großen Theater‘ sehen wir ‚Der Grieche Zorbas‘ von Mikis Theodorakis. Die Musik fasziniert, die dargebotenen Tänze fesseln durch ihre Artistik, Ästhetik und Erotik. Nach nicht enden wollenden Ovationen und drei Zugaben tritt Mikis Theodorakis selbst auf die Bühne, um sich für den begeisterten Applaus zu bedanken. Ein unvergesslicher Abend.“ (U. Wehking 1995)
Im Tagebuch der Schülerin K. Sanner (Auf der Rückfahrt hatte sie es sich spaßeshalber auf der Gepäckablage „bequem“ gemacht und wurde tatsächlich bei der Passkontrolle übersehen.) heißt es 1997 über die Fahrt in die Hohe Tatra: „Schließlich besteigen wir erneut eine Bergbahn, die uns diesmal den ganz langen Weg bis zum 1990 m hohen Kasprowy Wierch-Gipfel hinaufruckelt, wo uns ein treffliches Gelände für eine Gratwanderung erwartet. … Die einen genießen einfach hier wie auch sonst überall Gespräche und Albereien in der Gruppe; die anderen lassen sich von den Flügeln der Intuition in andere Sphären tragen, bezaubert von der Weite, den Formen der Hänge und der Illusion von Freiheit, welche die Luft der Höhe erschafft …“ Das war der weiteste Ausflug, den ich in den vielen Jahren erlebt habe. Ansonsten Tagesfahrten nach Thorn, Gnesen, Breslau, sogar Warschau bzw. Bremen, Goslar, einmal auch Köln und Lüneburg und natürlich Hamburg. Letzteres Ziel bekam immer wieder gute Noten. Beim jüngsten Besuch soll ein polnischer Schüler nach der Rückkehr die Stadt wie gewohnt gelobt, dann aber hinzugefügt haben, dass ihm Hannover besser gefalle. Recht hat er.
Posen/Poznań, eine Stadt verändert sich
Erwähnen möchte ich noch das Posener Schloss, einen wilhelminischen Propagandabau, der zu Ehren des Kronprinzen errichtet wurde und den Hitler später zu seiner Residenz umbauen ließ, ohne je dagewesen zu sein. Ein steinernes Abbild der viel zu lange unheilvollen Geschichte zwischen Deutschen und Polen. Statt dieses Machwerk deutscher Allmachtsphantasien einfach zu sprengen, wurde es zu einem Kulturzentrum umgestaltet, wo wir z.B. 2007 einer mitreißenden Streetdance-Vorführung beiwohnen durften und ich oft einen Kaffee im obersten Stockwerk getrunken habe. Welch großartige Umwidmung.
Über die Jahre hat sich Posen verändert. Es ist heller, bunter, moderner geworden. Viele positive Veränderungen mit ein paar Schattenseiten: „Die Nachmittage – sofern frei – verbrachten wir häufig damit, eines der zahlreichen Einkaufszentren zu erkunden oder die Supermärkte nach Spezialitäten zu durchstöbern. Dass auch die Einwohner Posens ihre Freizeit zunehmend in den (viel zu) vielen Shoppingmalls verbringen, statt ins Grüne oder wohin auch immer zu gehen, scheinen auch die Stadtoberen bemerkt zu haben. Es darf keine weitere gebaut werden. Immerhin gibt es ein architektonisches Juwel unter dem Shoppingeinheitsbrei, das Centrum Stary Browar, die erste Mall Posens (seit 2007). Teile einer alten Brauerei wurden in den Neubau integriert. Manche halten diese Mall für die schönste der Welt.“ (L. Jacob u. U. Wehking 2017)
Das Projekt ist kein Selbstläufer
Man fragt sich, warum es in der langen Zeit des Austauschs immer mal wieder schwierig war, jeweils 15 Schülerinnen und Schüler für das Projekt zu gewinnen. Denn Enttäuschung und Unzufriedenheit mit dem durchgeführten Programm, der Gastfamilie und/oder der eigenen Gruppe blieben die Ausnahme. Ich erinnere mich, wie einmal auf dem hannoverschen Bahnhof kurz vor der Abfahrt diesbezüglich ein Schülervater meinte: „Posen ist eben nicht Paris.“, woraufhin ein anderer konterte: „Aber auch nicht Peine.“ Wie wahr.
Die deutsche Sprache auf dem Rückzug
In den 80ern und 90ern spielte für die polnischen Schülerinnen und Schüler die Anwendung der erlernten Deutschkenntnisse eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung für die Teilnahme. Das ist mittlerweile Vergangenheit, da der Unterricht sich heute auf zwei Wochenstunden beschränkt, was ein substantielles Erlernen der deutschen Sprache fast unmöglich macht. Englisch wird auf beiden Seiten durchgängig benutzt. Ausnahme: Bismärcker*innen mit polnischen Wurzeln. Apropos deutsche Schüler mit polnischen Wurzeln: „… doch an diesem Tag goss es wie aus Kübeln, was die ansonsten wunderschöne alte Stadt (Thorn) nicht richtig zur Geltung brachte. Umso wärmer jedoch war das Wiedersehen von Karol und Bartosz Suchak, den beiden Brüdern, von denen der eine die Bismarckschule besucht und der andere im Sommer 2002 – bis dahin auch Bismarckschüler – nach Thorn zurückgekehrt ist.“ (A. Feldhaus u. S. Ude 2003)
Nicht selbstverständlich: Beginn und Kontinuität der Partnerschaft
Ich kehre noch einmal zurück zu den schwierigen Anfängen. „Im September 1983 reiste nun eine Schülergruppe für zwölf Tage nach Poznań. Die Unterbringung erfolgte im Studentenheim, die Beköstigung aber in der Schule. Alles war kompliziert und für unsere Verhältnisse mühevoll. Teilweise wurde es mit Humor, teilweise aber auch mit Beklemmung aufgenommen – lernten wir doch, in Ansätzen zumindest, den polnischen Alltag kennen. … Die polnischen Gastgeber stellten uns eine gut funktionierende Schule vor. Daß der Unterricht dort in der Regel in zwei Schichten abläuft, sei nur am Rande erwähnt. Schulraumknappheit wegen des starken Bevölkerungswachstums erzwingt dies.“ (L. Nettelmann 1992) Eine andere Welt, die ich zusammen mit Michael Kronig so schon 1995 nicht mehr erlebt habe, auch wenn die Transformationen in den 90er Jahren nicht ohne soziale Verwerfungen abliefen. Frau Bauermeister fand beim Jubiläum 2008 passende Worte: „Weil dieser Austausch unter so schwierigen politischen Bedingungen angefangen hat, freut es mich umso mehr, dass er weiterbesteht unter den heutigen ‚normalen‘ Verhältnissen. Ich weiß, dass diese Kontinuität nicht selbstverständlich ist …
Ja, die Aussöhnung mit Polen über den Kontakt mit Jugendlichen war eine Herzenssache meines Mannes (U. Bauermeister, Schulleiter der BS bis 1997). Und auch die von Herrn Henicz (Schulleiter bis 2001). Beide leben nicht mehr. Und so ist es ein ganz besonders gutes Gefühl, dass der Schüleraustausch weiterbesteht und hoffentlich noch lange fortgesetzt werden kann.“
Das 35jährige Jubiläum 2018 konnte ich noch selbst mitgestalten. Dank des Engagements von Frau Heinks und Frau Schönau bzw. von Herrn Wojtas und Herrn Hendzel, die seit 2009 dabei sind und neue Ideen eingebracht haben, konnten jetzt der erste Besuch und Gegenbesuch (17.-23.09.23) nach Corona erfolgreich durchgeführt werden und blieb diese Unterbrechung nur ein Intermezzo. Für die Zeit ab 1995 möchte ich noch M. Kronig, M. Ulanicka und J. Królikowski erwähnen (Später auch B. Płotkowiak, Schulleiterin 2002-2022, die uns 2006 und 2008 besucht und in der Aula auf Deutsch gesprochen hat.). Gemeinsam haben wir damals – das darf ich in aller Unbescheidenheit sagen – dem Austausch zusammen mit Schülern, Eltern und den Schulleitungen neues Leben eingehaucht. Ich bin sicher, dass diese älteste (!) Partnerschaft zwischen einer (west)deutschen und einer polnischen Schule auch den 50. Geburtstag erleben wird.
Ulrich Wehking